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Dienstag, 10. Oktober 2017

Abwehrschlacht

Von Robert Claus und Harald Aumeier

April 2010. Der FC Barcelona – das Team der Stunde – trifft im Halbfinale der Champions-League auf das chancenlose Inter Mailand. Es ist das Duell zweier Systeme: Auf der einen Seite spielt das von Pep Guardiola trainierte Barca mit seinen Feinfüßen Messi, Xavi und Iniesta ein auf dominanten Ballbesitz ausgelegtes Kurzpassspiel. Auf der anderen konzentriert sich das vom Taktiklabor Morinho aufgestellte Inter Mailand um die Abwehrgrätsche Thiago Motta aufs Verteidigen und Kontern. Doch konnten die Norditaliener das Hinspiel in der katalanischen Hauptstadt überraschend mit 3:1 für sich entscheiden. Nun sann das Team aus dem Baskenland im entscheidenden zweiten Duell auf Revanche.

Ich stehe kurz vor meinem persönlichen Sieg. Nur noch ein Wort fehlt: die Abwehrschlacht.










Wir hingegen sitzen an diesem Mittwochabend vor dem Fernseher und freuen uns auf einen berauschenden Kick der anderen Art. Vor jedem von uns liegt ein Zettel. Wir spielen Fußball-Bingo: In eine Tabelle von 5 mal 5 Feldern trägt jeder Fußballbegriffe und -floskeln ein, die der Kommentator im Laufe des Berichts aufrufen wird. Wer zuerst eine Reihe abstreichen kann, gewinnt eine Devotionalie aus der Fußball-Mottenkiste meiner Dortmunder Mitbewohnerin.


Unser Spiel beginnt. Der spanische Meister drängt von Beginn an, spielt flinken „Tiki-Taka“ mit doppelten „Übersteigern“ und filigranen „Tempodribblings“. Adrenalingetrieben beginne ich meine Felder abzustreichen. Das scheint den Kommentator zu inspirieren. Er treibt mich an. Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn und tropfen auf den Zettel. Er redet von „Bananenflanken “, „Dropkicks“, „Flugkopfbällen“ hier und „Taktikfüchsen“, „Glanzparaden“ sowie italienischem „Catennaccio“ dort. Ich komme kaum noch hinterher, suche mehr die Begriffe auf meinem Zettel, als dass ich das Spiel verfolge. Als er dann auch noch über den „Konterfußball“ der Mailänder herzieht, stehe ich kurz vor meinem persönlichen Sieg. Nur noch ein Wort fehlt: die Abwehrschlacht.

Thiago Motta bekommt die Rote Karte für eine Tätlichkeit, das Spielgeschehen verlagert sich  immer weiter Richtung Mailänder Tor. Der FC Barcelona hat den Strafraum umzingelt, wo sich die Schwarz-Blauen verzweifelt an ihr Ticket ins Finale klammern. Sie grätschen, beißen, ziehen, zerren, werfen sich in jeden Schuss. Der Kommentator schadroniert vom „Stellungskrieg“ und der Strafraumgrenze als „Frontgraben“. Der militärische Wahn hat ihn vollends aufgepeitscht.

Doch woher kommt nur dieser kriegerische Sprech, runzt es hinter meinen zusammengepressten Zähnen. Zumal auch Bundestrainer Jogi Löw nach dem WM-Spiel gegen Ghana 2014 von einem Stahlbad eiferte, durch das sein Team gegangen sei. George Orwell dichtete einmal Fußball sei Politik mit anderen Mitteln in Anlehnung an den Ausspruch des preussischen Generals Clausewitz, der selbiges über Krieg gesagt hatte. „Sport is war without shooting“, führte er aus. Es leuchtet ein: Abordnungen von Kiezen, Städten, Regionen, ganzen Ländern stehen sich getrennt in den Farben gegenüber und spielen mit körperlicher Aggression ihre Dominanz aus. Das Spiel wird aufgeladen mit den krudesten Formen niederträchtigsten Hasses, Siege gelten als Triumphe, Niederlagen als Untergang. Fußball und Existenz fallen in eins, historisch kein Zufall. Sebastian Haffner hob hervor, wie der aufblühende Amateursport der Weimarer Republik dazu diente, die Nation körperlich für den kommenden Krieg zu trimmen. Und er kam – so sicher wie der nächste Spieltag.

Zurück zu den modernen Gladiatoren: Die Zeit verrinnt, für Barca, für mich und meinen Glauben an die Fußballfloskel. Barcelona fehlen die Tore wie mir das eine Wort zu einer vollen Bingoreihe. Die Katalanen wollen das Finale und ich den Freudentanz auf meiner Couch. Ich bete, dass der Kommentator endlich die großen „Wortgranaten“ losfeuert. Verdribbelt und zugestellt – ‚Nun sag es schon!’ schreie ich den Fernseher an. Fassungslos hänge ich an den Lippen des aufgeregten Sprechers, der mein Glück in seinem Munde hält. „Inter geht es nicht um schönen Fußball, hier zählt nur die Null im Ergebnis“ höre ich. ‚Wenn ein Team hoffnungslos unterlegen ist und sich auf beinhartes Verteidigen beschränkt, dann ist das eine ... Ach was soll’s, schick ich dem Sender halt ´nen Duden’, grummelt es in mir.

Just, als ich meinen Zettel deprimiert zerknüllen möchte, geschieht es. Der FC lässt den Ball wieder einmal um den Strafraum laufen, als sei es Handball. Plötzlich steckt Xavi die Kugel auf links durch zu Piqué, der den herausstürmenden Torwart filigran mit der Sole umdribbelt und in der Drehung einschießt. Der zweite Treffer würde das Team ins Finale bringen. Inter hat sich komplett in den eigenen Strafraum zurückgezogen, verteidigt, als gäbe es kein danach. Derweil bringt sich der Kommentator in Stellung und posaunt in Kriegsmelodie: „Jetzt haben wir eine Abwehrschlacht!“.


Ich springe auf, ernte neidische Blicke und öffne den Gewinn des Abends: Eine Autogrammkarte von Jürgen Kohler! Es heißt, er hätte die Grätsche in den 90er Jahren neu erfunden. Ein Urvater der Abwehrschlacht. Meine Anspannung weicht entkräfteter Freude, nach dem frenetischen Jubel sinke ich kriegsmüde zurück auf meine Couch. Wie würde dieses Bingo nur zu Kampfsportfilmen verlaufen? Oder zu einer Pressekonferenz des DFB?



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tumds.blogspot.de - 10. Dezember 2015, Donnerstag