Von Robert Claus und Harald Aumeier
April 2010. Der FC Barcelona – das Team der Stunde – trifft
im Halbfinale der Champions-League auf das chancenlose Inter Mailand. Es ist
das Duell zweier Systeme: Auf der einen Seite spielt das von Pep Guardiola
trainierte Barca mit seinen Feinfüßen Messi, Xavi und Iniesta ein auf
dominanten Ballbesitz ausgelegtes Kurzpassspiel. Auf der anderen konzentriert
sich das vom Taktiklabor Morinho aufgestellte Inter Mailand um die
Abwehrgrätsche Thiago Motta aufs Verteidigen und Kontern. Doch konnten die
Norditaliener das Hinspiel in der katalanischen Hauptstadt überraschend mit 3:1
für sich entscheiden. Nun sann das Team aus dem Baskenland im entscheidenden
zweiten Duell auf Revanche.
Ich stehe kurz vor meinem persönlichen Sieg. Nur noch ein Wort fehlt: die Abwehrschlacht. |
Wir hingegen sitzen an diesem Mittwochabend vor dem Fernseher und freuen uns auf einen berauschenden Kick der anderen Art. Vor jedem von uns liegt ein Zettel. Wir spielen Fußball-Bingo: In eine Tabelle von 5 mal 5 Feldern trägt jeder Fußballbegriffe und -floskeln ein, die der Kommentator im Laufe des Berichts aufrufen wird. Wer zuerst eine Reihe abstreichen kann, gewinnt eine Devotionalie aus der Fußball-Mottenkiste meiner Dortmunder Mitbewohnerin.
Unser Spiel beginnt. Der spanische Meister drängt von Beginn
an, spielt flinken „Tiki-Taka“ mit doppelten „Übersteigern“ und filigranen
„Tempodribblings“. Adrenalingetrieben beginne ich meine Felder abzustreichen.
Das scheint den Kommentator zu inspirieren. Er treibt mich an. Schweißperlen
bilden sich auf meiner Stirn und tropfen auf den Zettel. Er redet von
„Bananenflanken “, „Dropkicks“, „Flugkopfbällen“ hier und „Taktikfüchsen“,
„Glanzparaden“ sowie italienischem „Catennaccio“ dort. Ich komme kaum noch
hinterher, suche mehr die Begriffe auf meinem Zettel, als dass ich das Spiel
verfolge. Als er dann auch noch über den „Konterfußball“ der Mailänder
herzieht, stehe ich kurz vor meinem persönlichen Sieg. Nur noch ein Wort fehlt:
die Abwehrschlacht.
Thiago Motta bekommt die Rote Karte für eine Tätlichkeit,
das Spielgeschehen verlagert sich immer
weiter Richtung Mailänder Tor. Der FC Barcelona hat den Strafraum umzingelt, wo
sich die Schwarz-Blauen verzweifelt an ihr Ticket ins Finale klammern. Sie
grätschen, beißen, ziehen, zerren, werfen sich in jeden Schuss. Der Kommentator
schadroniert vom „Stellungskrieg“ und der Strafraumgrenze als „Frontgraben“. Der
militärische Wahn hat ihn vollends aufgepeitscht.
Doch woher kommt nur dieser kriegerische Sprech, runzt es hinter meinen zusammengepressten Zähnen. Zumal
auch Bundestrainer Jogi Löw nach dem WM-Spiel gegen Ghana 2014 von einem
Stahlbad eiferte, durch das sein Team gegangen sei. George Orwell dichtete
einmal Fußball sei Politik mit anderen Mitteln in Anlehnung an den Ausspruch
des preussischen Generals Clausewitz, der selbiges über Krieg gesagt hatte.
„Sport is war without shooting“, führte er aus. Es leuchtet ein: Abordnungen
von Kiezen, Städten, Regionen, ganzen Ländern stehen sich getrennt in den
Farben gegenüber und spielen mit körperlicher Aggression ihre Dominanz aus. Das
Spiel wird aufgeladen mit den krudesten Formen niederträchtigsten Hasses, Siege
gelten als Triumphe, Niederlagen als Untergang. Fußball und Existenz fallen in
eins, historisch kein Zufall. Sebastian Haffner hob hervor, wie der aufblühende
Amateursport der Weimarer Republik dazu diente, die Nation körperlich für den
kommenden Krieg zu trimmen. Und er kam – so sicher wie der nächste Spieltag.
Zurück zu den modernen Gladiatoren: Die Zeit verrinnt, für
Barca, für mich und meinen Glauben an die Fußballfloskel. Barcelona fehlen die
Tore wie mir das eine Wort zu einer vollen Bingoreihe. Die Katalanen wollen das
Finale und ich den Freudentanz auf meiner Couch. Ich bete, dass der Kommentator
endlich die großen „Wortgranaten“ losfeuert. Verdribbelt und zugestellt – ‚Nun
sag es schon!’ schreie ich den Fernseher an. Fassungslos hänge ich an den
Lippen des aufgeregten Sprechers, der mein Glück in seinem Munde hält. „Inter
geht es nicht um schönen Fußball, hier zählt nur die Null im Ergebnis“ höre
ich. ‚Wenn ein Team hoffnungslos unterlegen ist und sich auf beinhartes
Verteidigen beschränkt, dann ist das eine ... Ach was soll’s, schick ich dem
Sender halt ´nen Duden’, grummelt es in mir.
Just, als ich meinen Zettel deprimiert zerknüllen möchte,
geschieht es. Der FC lässt den Ball wieder einmal um den Strafraum laufen, als
sei es Handball. Plötzlich steckt Xavi die Kugel auf links durch zu Piqué, der
den herausstürmenden Torwart filigran mit der Sole umdribbelt und in der
Drehung einschießt. Der zweite Treffer würde das Team ins Finale bringen. Inter
hat sich komplett in den eigenen Strafraum zurückgezogen, verteidigt, als gäbe
es kein danach. Derweil bringt sich der Kommentator in Stellung und posaunt in
Kriegsmelodie: „Jetzt haben wir eine Abwehrschlacht!“.
Ich springe auf, ernte neidische Blicke und öffne den Gewinn
des Abends: Eine Autogrammkarte von Jürgen Kohler! Es heißt, er hätte die
Grätsche in den 90er Jahren neu erfunden. Ein Urvater der Abwehrschlacht. Meine
Anspannung weicht entkräfteter Freude, nach dem frenetischen Jubel sinke ich
kriegsmüde zurück auf meine Couch. Wie würde dieses Bingo nur zu Kampfsportfilmen
verlaufen? Oder zu einer Pressekonferenz des DFB?
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tumds.blogspot.de - 10. Dezember 2015, Donnerstag