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Donnerstag, 10. Dezember 2015

Çarşı gegen Alles

Repression gegen Fans in der Türkei


Seit Dezember 2014 sind 35 Mitglieder der Istanbuler Ultragruppe „Çarşı“ wegen Vorbereitung eines Putschversuches angeklagt. Dabei gerät den Anhängern des Stadtteilclubs Beşiktaş vor allem ihre Beteiligung an den Protesten um den Gezi-Park zum Verhängnis. Ein Politikum. Und nur vor dem Hintergrund der Machtkämpfe in der Türkei zu verstehen.

Anfang der sechziger Jahre entstanden aus der lebendigen Fanszene der Türkei erste Fangruppen, die von Vereinen losgelöste Namen wählten. Sie boten damit eine zweite Identität neben der des Klubs an, wie z.B. die Gruppe „Teksas“ bei Bursaspor. Bei Beşiktaş, einem der drei konkurrierenden Stadtvereine der Metropole Istanbul, nannte sich die Fangruppe Çarşı. Es wird „Tscharsche“ gesprochen, mit einem kurzen stumpfen „e“ wie bei Schule. Çarşı bedeutet Markt(platz) und ist benannt nach einem Viertel im Herzen des Stadtteils Beşiktaş. Heute ist der Markt längst weitergezogen. Die verwinkelten Gassen des Viertels werden belebt durch kleine Läden, Restaurants, Cafes und Bars. Die Markthändler, Ladenbesitzer und Verkäufer lassen das bunte Treiben noch heute erahnen.

Der Çarşı in Beşiktaş, im Hintergund Protest-Transpis von Çarşı
Der Stadtteil lebt seinen Club. Auf dem „Çarşı“ wird schon mal verbotenerweise Alkohol auf offener Straße getrunken und rare Tabakduftaromen versüßen die Luft. Hier, aus und in diesem Kiez, entstand Çarşı. Gegründet von Jugendlichen Beşiktaş-Fans, in den siebziger Jahren, dort wo sie lebten, arbeiteten, oder einfach nur abhingen. Der „Çarşı“ liegt nur zehn Minuten Fußweg vom Inönü Stadion, benannt nach dem ehemaligen Ministerpräsidenten İsmet İnönü entfernt. Es bietet einen romantischen Bosporus-Blick. In seiner Umgebung finden sich Grünanlagen, Zufahrtsstraßen, Hotels und der Dolmabahçe Palast, der Sitz der letzten Sultane des osmanischen Reiches, einer der Top-Touristen-Spots der Stadt. Beşiktaş ist modern, was in der Türkei gleichbedeutend mit säkulär bzw. laizistisch ist. Dies zeigt sich auch bei den Wahlen. So kam die seit 13 Jahren allein regierende religiös-konservative Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei (AKP) bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 in Beşiktaş nur auf ein Ergebnis wie die CDU in Berlin-Kreuzberg. 15% der Stimmen machen die Regierungspartei zu einer Minderheit im Bezirk.

Ultras ala Turka


Im Gegensatz zu Ultra-Gruppen in Westeuropa, deren Ziel es war, verloren geglaubte Fankultur zu beleben, hatten die Ultras ala Turka andere Motive. Die Stadien im Land waren  gut besungen und die Amigos genannten Vorsänger hielten die Atmosphäre mit immer neuen Songs und Parolen am Kochen. Die Entstehung von Çarşı in den 70ern war hingegen ein Reflex auf die Veränderung im Kiez selbst. Denn das Land wandelte sich und so auch der Bezirk. Neue Bewohner kamen, der Markt wurde umgesiedelt, neue Läden entstanden und auch immer mehr Fans von Galatasaray oder Fenerbahçe fanden sich im Stadtviertel wieder. In dem Buch „Asi Ruh“, auf deutsch „Rebellische Seele“, von 2008, das erste über eine Fangruppe in der Türkei, fasste Çarşı-Mitbegründer Cem Yakışkan die Gründung in Worte: “Wir haben uns im Kiez umgeguckt, es gab mehr und mehr Fener und Galatasaray-Fans, da habe ich gesagt lasst uns eine Gruppe gründen. Die Gruppe wuchs schnell. Wir sind die Kinder vom Çarşı. Wir sind in Çarşı, wir sind in der Altstadt.“

Wachsendes Interesse an einer kiezbezogenen Vereinsidentität bescherte Zulauf. Aus ein paar Jugendlichen wurden Hunderte und Tausende. Sie unterstützten ihren Verein beim Fußball und Basketball mit aktuellen und traditionellen Songs. Bald konnten sich weder der Verein, noch Fans anderer Vereine der Gruppe entgegenstellen.

Çarşı ist laut, bunt und aufmüpfig. Der Slogan „Çarşı herşeye karşı“ (Çarşı ist gegen Alles) versinnbildlicht den anarchistischen Geist, der die Ultras ala Turka umweht und mit dem die Gruppe spielt. Das A im Kreis des Logos verdeutlicht dies weithin sichtbar. Und die Fanszene ist heterogen. Neben Fanaktionen in den Stadien organisierten sich Çarşı-Gruppen schon früh in Aktionen gegen Atomkraft. Daneben fanden sich aber auch Massenaufmärsche von Çarşı zu den nationalen Mahnmalen in Çanakkale oder dem Mausoleum von Rebublikgründer Mustafa Kemal Atatürk in Ankara. Das Portfolio der Ultra-Aktivisten spiegelt die Buntheit der türkischen Zivilgesellschaft wieder. Aktionen für Blutspenden, Tierrechtskampagnen, oder gegen Rassismus stehen nebeneinander. Çarşı Mitglieder bezeichnen ihre Fangruppe auch gern als größte NGO der Türkei.


Çarşı protestiert gegen Atomkraft
Foto by Wikipedia 
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Darüber hinaus gibt es keine Mitgliedschaft und keine feste Struktur, wie sie z.B. in westeuropäischen Fangruppen vorherrscht. So sind nur informelle Hierarchien entstanden. Die Vorsänger, die besten Transparent-Maler, die lautesten Fans, die engagiertesten Leute verschafften sich auch ohne offiziellen Vorsitz eine „Position“. Sie hatten mehr Kontakte, mehr Wissen, mehr Erfahrung und somit informelle Leitungsfunktionen. Ähnlich der westdeutschen Autonomen in den 1980er Jahren. Cem Yakışkan beschreibt den Zustand so: „Çarşı ist keine Marke, Çarşı ist ein Spirit. Niemand soll auf den Gedanken kommen, das er den Alleinvertretungsanspruch hat.“ Dennoch vertreiben die Ultras eigenes Merchandise. Doch nicht mit gefälschten Fanutensilien des Vereins, sondern mit seinem eigenen Branding. Einer Marke ohne Copyright. So wird im Land fleißig Fanmaterial, vom Trikot über Unterhosen bis hin zu aufwendig gestalteten Schlüsselanhängern, produziert. Wobei das A längst nicht mehr mit Anarchismus in Verbindung gebracht, sondern als Kurzsymbol von Çarşı gelabelt wird.

Der Weg zum Verfahren


Çarşı war durch seine Unberechenbarkeit auch immer ein Sicherheitsrisiko, im und um das Stadion. Keine andere Fangruppe in der Türkei erscheint ähnlich gut organisiert und groß. Film- und Buchdokumentationen wie „Asi Ruh“ machten Çarşı noch bekannter und beliebter, auch über die eigenen Fanfarben hinaus. Çarşı scheute zudem weder den Konflikt mit der eigenen Vereinsführung noch mit diversen Regierungen.

So auch im Mai 2013. Wie in den Jahren zuvor sollte am 1.Mai eine Demonstration auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul stattfinden. Seit der Legalisierung der 1. Mai-Demonstration am Taksim-Platz 2010 durch die AKP-Regierung waren auch Çarşı Fans auf den Demos mit umgewandelteten Fußballgesängen, lustigen Slogans und Eigenironie präsent. So ergänzen die Fußballfans unterschiedlicher Vereine die von Marschmusik, Stakkato-Parolen aus den 70er Jahren und Marschformationen der diversen kommunistischen Splittergruppen dominierten Maimanifestationen. Nicht nur für die Arbeiterdemos waren diese Teilnehmer neu. Auch für die Fußballfans selbst, denn erstmals liefen Fans unterschiedlicher Vereine nebeneinander.

Im Gegensatz zu den vorhergehenden Jahren wurde die Demonstration 2013 am Taksim Platz aufgrund von Bauarbeiten verboten. Gewerkschaften und linke Gruppen hielten jedoch am symbolträchtigen Platz fest. Denn der Taksim-Platz hat für die Arbeiterbewegung in der Türkei eine besondere Bedeutung. 1977 wurde hier bei einer Maidemo, von bis heute unbekannten Personen, auf die Demonstranten am Taksim-Platz aus umliegenden Häusern scharf geschossen. Durch die Schüsse auf die 500.000 Demonstranten und die anschließende Panik starben 34 Menschen. Seitdem ist der Taksim-Platz am 1. Mai erklärtes Ziel der Gewerkschaften. Demoverbote zogen bis 2009 stundenlange Straßenschlachten mit der Polizei nach sich, da Demonstranten trotz Verbots zum Taksim vorstoßen wollten. Mit dem erneuten Verbot von 2013 bahnte sich ein Rückschritt in alte Zeiten an.

Im Mai 2013 war der Platz dann erneut weiträumig abgesperrt. Öffentliche Verkehrsmittel wurden eingeschränkt und das Zentrum der Stadt stand unter einem offiziell nicht ausgerufenen Ausnahmezustand. Abermals versuchten Demonstranten die Absperrungen zu umgehen, um trotzdem auf den Platz zu gelangen. An allen Zufahrtswegen zum Taksim-Platz entwickelten sich Auseinandersetzungen mit der Polizei. Doch im nur zwanzig Fußminuten vom Taksim-Platz entfernten Beşiktaş bekamen die verhinderten Demoteilnehmer unerwartete Unterstützung aus dem Kiez. Nachdem Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Linke im Kiez von der Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas angegriffen wurden, solidarisierten sich Fans von Çarşı aktiv mit den Demonstranten. Sie unterstützen somit auch über den legalisierten 1. Mai hinaus die Forderungen der Arbeiter. Dabei stellte die spontane Reaktion auf die Polizeigewalt im Kiez einen Wendepunkt für die Ultras dar. Erstmals traten Çarşı-Fans nun auch in Kämpfen gegen die Staatsgewalt auf, fernab von Auseinandersetzungen in und um die Stadien. Und dieser hinterließ seine Spuren in der Erinnerung der Bewohner von Beşiktaş-Çarşı. Genau wie der Geruch des Tränengases in deren Wohnungen.

Nur zehn Tage später sollte Beşiktaş erneut zum Schauplatz von gewalttätigen Auseinandersetzungen werden. Beşiktaş traf im letzten Heimspiel der Saison auf Hauptstadtklub Ankara Gençlerbirliği. Keine Partie mit Symbolkraft, zudem war der Titel schon längst vergeben. Doch sollte Beşiktaş Abschied vom alten Inönü-Stadion nehmen. Schon lange wollte der Verein das Stadion modernisieren, denn die Konkurrenz von Galatasaray und Fenerbahçe hatten schon längst mit modernen Arenen neue Einnahmequellen erschlossen. Beşiktaş hingegen spielte immer noch in dem Steinkomplex von 1947, mit nur 32.000 Zuschauern Fassungsvermögen.


The End Das Inönü Stadion nach dem letzten Spiel. Einige Buchstaben haben jetzt die Fans.

Der Weg zum Stadion war für den Abschied besonders hergerichtet und gepflastert mit den Namen von hunderten Unterstützern des Klubs. Die Gassen um den Çarşı füllten sich. Jeder wollte dabei sein. Doch das Event geriet zu einem Desaster. Während tausende Beşiktaş-Fans sich auf den Weg zum Stadion machten, versuchte eine Motorradstreife der Polizei sich den Weg durch die Fans zu bahnen. Und völlig unvermittelt zückte einer der Beamten seine Dienstwaffe, schoß mehrmals in die Luft inmitten der feiernden Fans. Innerhalb von Sekunden entlud sich eine Welle der Empörung. Hunderte von Fans bewarfen die fliehenden Mottoradpolizisten mit Flaschen, Müll und Steinen. Ebenso wurde eine Gruppe von Beamten massiv mit Wurfgeschossen attackiert, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite zum Schutz des Büros des Ministerpräsidenten Erdoğan abkommandiert war. Die Situation eskalierte und innerhalb kürzester Zeit erstreckten sich die Auseinandersetzungen über weite Teile des Kiezes bis hin zum Stadion. Die Gewalt in Beşiktaş klang erst in der späten Nacht wieder ab. Selbst während des Süperlig-Spiels hielten die Auseinandersetzungen an. Nun waren nicht nur die Bewohner von Beşiktaş mit Tränengas umwölkt, sondern auch die Fans und Spieler im Stadion. Somit war Beşiktaş zum zweiten mal innerhalb von zehn Tagen zum Schauplatz von Gewalt geworden. Der brutale Einsatz zum 1. Mai wurde durch die Schüsse zum Gençlerbirliği-Spiel noch gesteigert. In der alltäglich mit neuen Verschwörungstheorien kokettierenden Türkei blühte die Phantasie. Beşiktaş-Fans werteten die Angriffe als Revanche auf die Solidarität des 1. Mai.



Schüsse durch Polizeibeamte inmitten feiernder Fans in Beşiktaş 

Der dritte Akt im Mai


Am Morgen des 28. Mai wachten die Istanbuler mit einer Meldung auf, welche das Land in den nächsten Tagen zutiefst verändern würde. Auf dem am Taksim-Platz gelegenen kleinen Gezi-Park begannen Bauarbeiten. Aktivisten um die Architektin Mücella Yapıcı mobilisierten über das Netz, mit dem Ziel eine mögliche Bebauung einer der letzten zentralen Grünflächen der Stadt zu verhindern. Die Sprecherin der 2010 gegründeten Bürgerinitiative Taksim Dayanışma (Taksim Solidarität)  rief zum Protest auf. Mit einer Besetzung des Parkes konnte vorerst die Fällung der Bäume verhindert werden. Dem folgte eine polizeiliche Räumung mit anschließender Neu-Besetzung. Diesmal mit etwas mehr Unterstützung, auch von namhaften Künstlern, wie z.B. TV-Star Okan Bayülgen. Aus der Besetzung entwickelte sich ein Happening mit Lesungen und live Musik bis tief in die Nacht.

Eine erneute Räumung in den Morgenstunden brachte das Fass zum Überlaufen. Bilder von dem brutalen Polizeieinsatz verbreiteten sich über soziale Medien. Sie führten dazu, dass sich spontan zehntausende Menschen in ganz Istanbul auf den Weg machten, um den Platz wieder zu besetzen. Dabei waren auch die Fans von Beşiktaş. Die Ereignisse der letzten Tage noch im Kopf, machten sich die Çarşı-Fans vom nahegelegenen Beşiktaş aus auf, um den Demonstranten zu helfen. Auch Fans anderer Vereine nahmen an den unorganisierten Aktionen teil. Doch während sich hunderte von Fenerbahçe-Fans stundenlang über die Bosporus Brücke zu Fuß durchschlagen mussten, waren die Beşiktaş Fans bereits vor Ort. Zur Unorganisiertheit des spontanen, sich steigernden Widerstandes passten die Fangruppen, die den Protesten ein offenes Image verliehen.

Der Gezi-Park wurde am 1. Juni erneut besetzt. Bis zum 15. Juni war der gesamte Taksim-Platz plus Umgebung von Barrikaden umsäumt, quasi eine polizeifreie Zone. Auf dem besetzten Platz nahmen die Fans von Çarşı neben unzähligen anderen Organisationen und Einzelpersonen ihren Platz ein. Sie beteiligten sich nicht nur an der Bewachung des Platzes, sondern auch an der Organisation des Lebens im besetzten Gebiet. Zudem initiierten sie allabendliche, öffentliche Foren in den Parks der gesamten Türkei. Während der landesweiten Proteste starben zehn Personen und über 8.000 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt.

Von Sympathieträgern zu Putschisten


Schnell wurde klar, dass die Proteste sich nicht nur um den Taksim-Platz und den kleinen Park drehten. Die Demonstrationen entwickelten sich zu einer landesweiten Abrechnung unter unterschiedlichsten Motiven mit der elfjährigen Regierungszeit der AKP. Deutlich wurde auch, dass diese nicht auf Deeskalation setzen würde, Parteivertreter und regierungsnahe Journalisten heizten mit provozierenden Erklärungen die Stimmung auf. Die Protestierenden wurden zu Plünderern und Chaoten stigmatisiert, dem Çapulcu. Erdoğan und seine Regierung sahen die Demonstrationen als Putschversuch mit Unterstützung der internationalen Zinsen-Lobby, ausländischen Kräften und der Lufthansa, deren erklärtes Ziel es sei, die aufstrebende Türkei zu schwächen. Der Journalist und heutige Berater von Erdoğan, Yiğit Bulut, trieb dies auf die Spitze, in dem er öffentlich von einem Mordversuch am Ministerpräsidenten per Telekinese, also Gedankenübertragung, fabulierte. So merkwürdig diese Verschwörungstheorien klingen mögen, willfährige Abnehmer finden sich stets.


Ironischer Protest auf die Verschwörungstheorien von Regierungsseite: Graffiti während der Gezi-Proteste in der Umgebung vom Taksim-Platz: Wtf ist Zinsenlobby?


Zudem ließ auch die AKP kein Mittel zur Spaltung der Proteste aus und mobilisierte zu ihren Anti-Gezi Park Meetings mit skurrilen Propaganda-Ideen. So setzte sie im Juni 2013 selbst auf die Popularität von Çarşı. Auf einer Pro-AKP Demo im Istanbuler Stadtteil Zeytinburnu liefen Erdoğan-Anhänger mit Çarşı-Fahnen auf, unübersehbar für Medien vor der Bühne platziert. Der Clou dabei: Es fehlten sowohl der übliche Schrifttyp von Çarşı als auch das typische A. Parteistrategen setzten auf die Streetcredebility von Çarşı und versuchten die Ultras zu vereinnahmen. Zugleich zeigt dies eindrucksvoll den Stellenwert von Çarşı als Marke und Organisation in der Gesellschaft auf.

Genau diese Gruppe, mit der die AKP im Zuge der Gezi-Proteste Werbung machte, steht nun wegen Putschversuch gegen eben diese Regierung unter Anklage. Und damit ist Çarşı nicht allein. Im ganzen Land laufen unzählige Verfahren gegen Einzelpersonen und Organisationen mit Bezug auf die Juni-Proteste. Überdies auffällig ist, dass dies nicht der erste Putschversuch gegen die AKP sein soll. Verfahren mit dem Vorwurf des Putschversuches ziehen sich wie eine rote Linie durch die Amtszeit Erdoğans. Sie wurden bekannt unter den Schlagworten „Ergenekon“ und „Balyoz“. Hierbei traf es die kemalistische Opposition besonders hart. Hunderte von Journalisten, Politikern und Militärs landeten aufgrund des Vorwurfes schon für mehrere Jahre hinter Gittern. Aktuell wird ein weiterer Putschprozess vorbereitet, diesmal gegen die religiöse Glaubensgemeinschaft um Prediger Fetullah Gülen, mit dem sich die AKP nach jahrelanger Zusammenarbeit überworfen hat.

Mit der Umstrukturierung der Gerichtsbarkeit in den letzten Jahren ist die offensichtliche  Abhängigkeit der Justiz von der Regierungspartei noch verstärkt worden. Richter und Staatsanwälte leben in ständiger Angst versetzt zu werden. Diese Entwicklung kritisierte jüngst die Venedig-Kommission im EU-Rat und prangerte die Einflussnahme der Politik in Form von Versetzungen, Entlassungen und Festnahmen im Justizapparat auch in laufenden Prozessen im Juni 2015 an. 

Wirren der Anklage


Obendrein ist der Prozess von einer ganzen Reihe an Widersprüchen und irregulären Abläufen geprägt. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Putschprozessen in der jüngsten Geschichte der Türkei, ist die Anklageschrift mit 38 Seiten auffällig kurz gehalten. Zudem wurde bereits im Vorfeld der zuständige Staatsanwalt Muammar Akkas abgesetzt, seine angebliche Nähe zu Fetullah Gülen brachte ihn nun selbst hinter Gittern. Der neue Staatsanwalt Adem Meral sorgt nicht nur mit der knappen Anklage für Aufsehen, sondern auch mit seiner schriftlichen Antwort auf eine Anfrage der Behörde zur Terrorbekämpfung. Darin bescheinigte er, dass trotz vielfacher Abhöraktionen keinerlei Anhaltspunkte für die illegale Organisation eines Putsches von Çarşı existierten. Zu diesem Zeitpunkt  war er noch nicht mit der Anklage beauftragt.

Nur drei Monate später klagte er dann wegen Vorbereitung eines Putschversuch und Gründung einer illegalen Organisation an. Die Zeit schien knapp gewesen zu sein, denn selbst die nur 38 Seiten der Anklageschrift sind äußerst aufgebläht. Die Namen der Angeklagten nehmen den meisten Platz ein. Auf den restlichen Seiten wird es immer skurriler. Von der Staatsanwaltschaft genannte polizeiliche Zeugen bestritten die unter ihren Namen aufgeführten Aussagen. Diese seien aus einem anderen Verfahren in dieses per Copy and Paste eingefügt worden. Probleme mit Çarşı hätten sie keine gehabt, berichteten die Beamten am zweiten Verhandlungstag. Damit fällt einer der wichtigsten Punkte der Anklageschrift weg. Es bleiben eine Reihe von Telefonaten, in dem die Angeklagten ihren Frust über die Situation im Land in Teils derben Worten ausdrücken, oder Pizzarechnungen die für den Organisationsgrad stehen sollen. Nicht zuletzt wurde eine präparierte Plastikflasche als Waffe gewertet diese stellte letzlich jedoch nur eine harmlose und selbsthergestellte Pfeife dar. Entwaffnend verteidigte sich Mitangeklagter Cem Yakışkan: „Wenn wir die Stärke hätten, um einem Putsch durchzuführen, dann hätten wir Beşiktaş zuerst zur Meisterschaft verholfen.“

Auch aufgrund der dürftigen verbleibenden Anklage kam die Verhandlung am dritten Prozesstag unter einem neuen Richter erneut keinen Schritt weiter. Bundestagsabgeordneter und Prozessbeobachter Özcan Mutlu postete ein Video vom Auszug der singenden Fans aus dem Gerichtssaal und kommentierte per Twitter: „Das Verfahren ist weiterhin ein Politikum und ein Lackmustest für die Justiz“. Die Istanbuler Anwaltskammer sah schon mit der Anklageschrift den Höhepunkt der staatsanwältlichen Phantasie erreicht und beklagte die Verwässerung des juristischen Begriffs des Putschversuches. Damit würde gesellschaftliche Angst erzeugt, um vor der Teilnahme an demokratischen Protesten abzuschrecken und Polizeigewalt zu rechtfertigen.


Der juristische Umgang mit den Gezi-Protesten ist somit nur im Kontext einer politisierten Justiz zu verstehen. Die größten Proteste in der Geschichte der türkischen Republik richteten sich gegen die neue Machtelite der AKP. Auf den Ausgang des Verfahrens werden somit auch tagespolitische Ereignisse Einfluss haben. Denn eine stille Beerdigung des Verfahrens sollte in die Konjunktur passen.


Dementsprechend lässt sich auch die letzte Verhandlungsverschiebung einordnen. Denn die AKP stand vor einer schweren Bewährungsprobe. Bei der Wahl am 6. Juni verlor sie die absolute Parlamentsmehrheit und hätte erstmals koalieren müssen.  Da es bis Ende August zu keiner Koalitionsregierung kam, mussten Anfang November Neuwahlen durchgeführt werden. Eine weitere Niederlage in einem der etlichen Putschverfahren stünde da nicht gut zu Gesicht. Und selbst regierungsnahen Medien scheint das Verfahren mit einer zu heißen Nadel gestrickt zu sein. Die Berichterstattung fällt nahezu komplett aus. So war es nicht verwunderlich, dass dies beim vierten Prozesstag im September berücksichtigt wurde und ein Abschluss des Verfahrens erst auf einen Termin nach der erneuten Wahl fiel. Zudem wurden die Anklage wegen versuchten Putschversuches zurückgezogen. Die Staatsanwaltschaft fordert jedoch weiterhin Strafen zwischen 2 und 50 Jahren gegenüber einzelnen der Angeklagten wegen Gründung, Leitung oder Mitgliedschaft einer illegalen Vereinigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Sachbeschädigung und Verstoß gegen das Versammlungsgesetz. Nun wird für den 29. Dezember ein Verhandlunsergebnis erwartet.

Dieser Post ist eine leicht aktualisierte Fassung des Artikels "Çarşı gegen Alles" erschienen in Transparent-Magazin No.14.