Repression gegen Fans in der Türkei
Seit Dezember 2014 sind 35 Mitglieder der Istanbuler Ultragruppe „Çarşı“ wegen Vorbereitung eines Putschversuches angeklagt. Dabei gerät den Anhängern des Stadtteilclubs Beşiktaş vor allem ihre Beteiligung an den Protesten um den Gezi-Park zum Verhängnis. Ein Politikum. Und nur vor dem Hintergrund der Machtkämpfe in der Türkei zu verstehen.
Anfang der sechziger Jahre entstanden aus der
lebendigen Fanszene der Türkei erste Fangruppen, die von Vereinen losgelöste
Namen wählten. Sie boten damit eine zweite Identität neben der des Klubs an,
wie z.B. die Gruppe „Teksas“ bei Bursaspor. Bei Beşiktaş, einem der drei
konkurrierenden Stadtvereine der Metropole Istanbul, nannte sich die Fangruppe
Çarşı. Es wird „Tscharsche“ gesprochen, mit einem kurzen stumpfen „e“ wie bei
Schule. Çarşı bedeutet Markt(platz) und ist benannt nach einem Viertel im
Herzen des Stadtteils Beşiktaş. Heute ist der Markt längst weitergezogen. Die
verwinkelten Gassen des Viertels werden belebt durch kleine Läden, Restaurants,
Cafes und Bars. Die Markthändler, Ladenbesitzer und Verkäufer lassen das bunte
Treiben noch heute erahnen.
Der Çarşı in Beşiktaş, im Hintergund Protest-Transpis von Çarşı |
Ultras ala Turka
Im Gegensatz zu Ultra-Gruppen in Westeuropa,
deren Ziel es war, verloren geglaubte Fankultur zu beleben, hatten die Ultras
ala Turka andere Motive. Die Stadien im Land waren gut besungen und die Amigos genannten
Vorsänger hielten die Atmosphäre mit immer neuen Songs und Parolen am Kochen.
Die Entstehung von Çarşı in den 70ern war hingegen ein Reflex auf die
Veränderung im Kiez selbst. Denn das Land wandelte sich und so auch der Bezirk.
Neue Bewohner kamen, der Markt wurde umgesiedelt, neue Läden entstanden und
auch immer mehr Fans von Galatasaray oder Fenerbahçe fanden sich im
Stadtviertel wieder. In dem Buch „Asi Ruh“, auf deutsch „Rebellische Seele“,
von 2008, das erste über eine Fangruppe in der Türkei, fasste
Çarşı-Mitbegründer Cem Yakışkan die Gründung in Worte: “Wir haben uns im Kiez
umgeguckt, es gab mehr und mehr Fener und Galatasaray-Fans, da habe ich gesagt
lasst uns eine Gruppe gründen. Die Gruppe wuchs schnell. Wir sind die Kinder
vom Çarşı. Wir sind in Çarşı, wir sind in der Altstadt.“
Wachsendes Interesse an einer kiezbezogenen
Vereinsidentität bescherte Zulauf. Aus ein paar Jugendlichen wurden Hunderte
und Tausende. Sie unterstützten ihren Verein beim Fußball und Basketball mit
aktuellen und traditionellen Songs. Bald konnten sich weder der Verein, noch
Fans anderer Vereine der Gruppe entgegenstellen.
Çarşı ist laut, bunt und aufmüpfig. Der Slogan
„Çarşı herşeye karşı“ (Çarşı ist gegen
Alles) versinnbildlicht den anarchistischen Geist, der die Ultras ala Turka
umweht und mit dem die Gruppe spielt. Das A im Kreis des Logos verdeutlicht
dies weithin sichtbar. Und die Fanszene ist heterogen. Neben Fanaktionen in den
Stadien organisierten sich Çarşı-Gruppen schon früh in Aktionen gegen
Atomkraft. Daneben fanden sich aber auch Massenaufmärsche von Çarşı zu den
nationalen Mahnmalen in Çanakkale oder dem Mausoleum von Rebublikgründer
Mustafa Kemal Atatürk in Ankara. Das Portfolio der Ultra-Aktivisten spiegelt
die Buntheit der türkischen Zivilgesellschaft wieder. Aktionen für Blutspenden,
Tierrechtskampagnen, oder gegen Rassismus stehen nebeneinander. Çarşı Mitglieder
bezeichnen ihre Fangruppe auch gern als größte NGO der Türkei.
Çarşı protestiert gegen Atomkraft Foto by Wikipedia Kamu Malı von Math34 hochgeladen |
Darüber hinaus gibt es keine Mitgliedschaft und
keine feste Struktur, wie sie z.B. in westeuropäischen Fangruppen vorherrscht.
So sind nur informelle Hierarchien entstanden. Die Vorsänger, die besten
Transparent-Maler, die lautesten Fans, die engagiertesten Leute verschafften
sich auch ohne offiziellen Vorsitz eine „Position“. Sie hatten mehr Kontakte,
mehr Wissen, mehr Erfahrung und somit informelle Leitungsfunktionen. Ähnlich
der westdeutschen Autonomen in den 1980er Jahren. Cem Yakışkan beschreibt den
Zustand so: „Çarşı ist keine Marke, Çarşı ist ein Spirit. Niemand soll auf den
Gedanken kommen, das er den Alleinvertretungsanspruch hat.“ Dennoch vertreiben
die Ultras eigenes Merchandise. Doch nicht mit gefälschten Fanutensilien des
Vereins, sondern mit seinem eigenen Branding. Einer Marke ohne Copyright. So
wird im Land fleißig Fanmaterial, vom Trikot über Unterhosen bis hin zu
aufwendig gestalteten Schlüsselanhängern, produziert. Wobei das A längst nicht
mehr mit Anarchismus in Verbindung gebracht, sondern als Kurzsymbol von Çarşı
gelabelt wird.
Der Weg zum Verfahren
Çarşı war durch seine Unberechenbarkeit auch
immer ein Sicherheitsrisiko, im und um das Stadion. Keine andere Fangruppe in
der Türkei erscheint ähnlich gut organisiert und groß. Film- und
Buchdokumentationen wie „Asi Ruh“ machten Çarşı noch bekannter und beliebter,
auch über die eigenen Fanfarben hinaus. Çarşı scheute zudem weder den Konflikt
mit der eigenen Vereinsführung noch mit diversen Regierungen.
So auch im Mai 2013. Wie in den Jahren zuvor
sollte am 1.Mai eine Demonstration auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul
stattfinden. Seit der Legalisierung der 1. Mai-Demonstration am Taksim-Platz
2010 durch die AKP-Regierung waren auch Çarşı Fans auf den Demos mit
umgewandelteten Fußballgesängen, lustigen Slogans und Eigenironie präsent. So
ergänzen die Fußballfans unterschiedlicher Vereine die von Marschmusik,
Stakkato-Parolen aus den 70er Jahren und Marschformationen der diversen kommunistischen Splittergruppen dominierten
Maimanifestationen. Nicht nur für die Arbeiterdemos waren diese Teilnehmer neu.
Auch für die Fußballfans selbst, denn erstmals liefen Fans unterschiedlicher
Vereine nebeneinander.
Im Gegensatz zu den vorhergehenden Jahren wurde
die Demonstration 2013 am Taksim Platz aufgrund von Bauarbeiten verboten.
Gewerkschaften und linke Gruppen hielten jedoch am symbolträchtigen Platz fest.
Denn der Taksim-Platz hat für die Arbeiterbewegung in der Türkei eine besondere
Bedeutung. 1977 wurde hier bei einer Maidemo, von bis heute unbekannten
Personen, auf die Demonstranten am Taksim-Platz aus umliegenden Häusern scharf
geschossen. Durch die Schüsse auf die 500.000 Demonstranten und die
anschließende Panik starben 34 Menschen. Seitdem ist der Taksim-Platz am 1. Mai
erklärtes Ziel der Gewerkschaften. Demoverbote zogen bis 2009 stundenlange
Straßenschlachten mit der Polizei nach sich, da Demonstranten trotz Verbots zum
Taksim vorstoßen wollten. Mit dem erneuten Verbot von 2013 bahnte sich ein
Rückschritt in alte Zeiten an.
Im Mai 2013 war der Platz dann erneut weiträumig
abgesperrt. Öffentliche Verkehrsmittel wurden eingeschränkt und das Zentrum der
Stadt stand unter einem offiziell nicht ausgerufenen Ausnahmezustand. Abermals
versuchten Demonstranten die Absperrungen zu umgehen, um trotzdem auf den Platz
zu gelangen. An allen Zufahrtswegen zum Taksim-Platz entwickelten sich
Auseinandersetzungen mit der Polizei. Doch im nur zwanzig Fußminuten vom Taksim-Platz
entfernten Beşiktaş bekamen die verhinderten Demoteilnehmer unerwartete
Unterstützung aus dem Kiez. Nachdem Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Linke
im Kiez von der Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas angegriffen wurden,
solidarisierten sich Fans von Çarşı aktiv mit den Demonstranten. Sie
unterstützen somit auch über den legalisierten 1. Mai hinaus die Forderungen
der Arbeiter. Dabei stellte die spontane Reaktion auf die Polizeigewalt im Kiez
einen Wendepunkt für die Ultras dar. Erstmals traten Çarşı-Fans nun auch in
Kämpfen gegen die Staatsgewalt auf, fernab von Auseinandersetzungen in und um
die Stadien. Und dieser hinterließ seine Spuren in der Erinnerung der Bewohner
von Beşiktaş-Çarşı. Genau wie der Geruch des Tränengases in deren Wohnungen.
Nur zehn Tage später sollte Beşiktaş erneut zum
Schauplatz von gewalttätigen Auseinandersetzungen werden. Beşiktaş traf im
letzten Heimspiel der Saison auf Hauptstadtklub Ankara Gençlerbirliği. Keine
Partie mit Symbolkraft, zudem war der Titel schon längst vergeben. Doch sollte
Beşiktaş Abschied vom alten Inönü-Stadion nehmen. Schon lange wollte der Verein
das Stadion modernisieren, denn die Konkurrenz von Galatasaray und Fenerbahçe
hatten schon längst mit modernen Arenen neue Einnahmequellen erschlossen.
Beşiktaş hingegen spielte immer noch in dem Steinkomplex von 1947, mit nur
32.000 Zuschauern Fassungsvermögen.
Der Weg zum Stadion war für den Abschied
besonders hergerichtet und gepflastert mit den Namen von hunderten
Unterstützern des Klubs. Die Gassen um den Çarşı füllten sich. Jeder wollte
dabei sein. Doch das Event geriet zu einem Desaster. Während tausende Beşiktaş-Fans
sich auf den Weg zum Stadion machten, versuchte eine Motorradstreife der
Polizei sich den Weg durch die Fans zu bahnen. Und völlig unvermittelt zückte
einer der Beamten seine Dienstwaffe, schoß mehrmals in die Luft inmitten der
feiernden Fans. Innerhalb von Sekunden entlud sich eine Welle der Empörung.
Hunderte von Fans bewarfen die fliehenden Mottoradpolizisten mit Flaschen, Müll
und Steinen. Ebenso wurde eine Gruppe von Beamten massiv mit Wurfgeschossen attackiert,
die auf der gegenüberliegenden Straßenseite zum Schutz des Büros des
Ministerpräsidenten Erdoğan abkommandiert war. Die Situation eskalierte und innerhalb
kürzester Zeit erstreckten sich die Auseinandersetzungen über weite Teile des
Kiezes bis hin zum Stadion. Die Gewalt in Beşiktaş klang erst in der späten
Nacht wieder ab. Selbst während des Süperlig-Spiels hielten die
Auseinandersetzungen an. Nun waren nicht nur die Bewohner von Beşiktaş mit
Tränengas umwölkt, sondern auch die Fans und Spieler im Stadion. Somit war
Beşiktaş zum zweiten mal innerhalb von zehn Tagen zum Schauplatz von Gewalt
geworden. Der brutale Einsatz zum 1. Mai wurde durch die Schüsse zum Gençlerbirliği-Spiel
noch gesteigert. In der alltäglich mit neuen Verschwörungstheorien
kokettierenden Türkei blühte die Phantasie. Beşiktaş-Fans werteten die Angriffe
als Revanche auf die Solidarität des 1. Mai.
Schüsse durch Polizeibeamte inmitten feiernder Fans in Beşiktaş
Der dritte Akt im Mai
Am Morgen des 28. Mai wachten die Istanbuler mit
einer Meldung auf, welche das Land in den nächsten Tagen zutiefst verändern
würde. Auf dem am Taksim-Platz gelegenen kleinen Gezi-Park begannen
Bauarbeiten. Aktivisten um die Architektin Mücella Yapıcı mobilisierten über
das Netz, mit dem Ziel eine mögliche Bebauung einer der letzten zentralen
Grünflächen der Stadt zu verhindern. Die Sprecherin der 2010 gegründeten
Bürgerinitiative Taksim Dayanışma (Taksim
Solidarität) rief zum Protest auf. Mit einer Besetzung des
Parkes konnte vorerst die Fällung der Bäume verhindert werden. Dem folgte eine
polizeiliche Räumung mit anschließender Neu-Besetzung. Diesmal mit etwas mehr
Unterstützung, auch von namhaften Künstlern, wie z.B. TV-Star Okan Bayülgen. Aus
der Besetzung entwickelte sich ein Happening mit Lesungen und live Musik bis
tief in die Nacht.
Eine erneute Räumung in den Morgenstunden brachte
das Fass zum Überlaufen. Bilder von dem brutalen Polizeieinsatz verbreiteten
sich über soziale Medien. Sie führten dazu, dass sich spontan zehntausende
Menschen in ganz Istanbul auf den Weg machten, um den Platz wieder zu besetzen.
Dabei waren auch die Fans von Beşiktaş. Die Ereignisse der letzten Tage noch im
Kopf, machten sich die Çarşı-Fans vom nahegelegenen Beşiktaş aus auf, um den
Demonstranten zu helfen. Auch Fans anderer Vereine nahmen an den
unorganisierten Aktionen teil. Doch während sich hunderte von Fenerbahçe-Fans
stundenlang über die Bosporus Brücke zu Fuß durchschlagen mussten, waren die
Beşiktaş Fans bereits vor Ort. Zur Unorganisiertheit des spontanen, sich
steigernden Widerstandes passten die Fangruppen, die den Protesten ein offenes
Image verliehen.
Der Gezi-Park wurde am 1. Juni erneut besetzt.
Bis zum 15. Juni war der gesamte Taksim-Platz plus Umgebung von Barrikaden
umsäumt, quasi eine polizeifreie Zone. Auf dem besetzten Platz nahmen die Fans
von Çarşı neben unzähligen anderen Organisationen und Einzelpersonen ihren
Platz ein. Sie beteiligten sich nicht nur an der Bewachung des Platzes, sondern
auch an der Organisation des Lebens im besetzten Gebiet. Zudem initiierten sie
allabendliche, öffentliche Foren in den Parks der gesamten Türkei. Während der
landesweiten Proteste starben zehn Personen und über 8.000 Menschen wurden zum
Teil schwer verletzt.
Von Sympathieträgern zu Putschisten
Schnell wurde klar, dass die Proteste sich nicht
nur um den Taksim-Platz und den kleinen Park drehten. Die Demonstrationen
entwickelten sich zu einer landesweiten Abrechnung unter unterschiedlichsten
Motiven mit der elfjährigen Regierungszeit der AKP. Deutlich wurde auch, dass
diese nicht auf Deeskalation setzen würde, Parteivertreter und regierungsnahe
Journalisten heizten mit provozierenden Erklärungen die Stimmung auf. Die
Protestierenden wurden zu Plünderern und Chaoten stigmatisiert, dem Çapulcu.
Erdoğan und seine Regierung sahen die Demonstrationen als Putschversuch mit
Unterstützung der internationalen Zinsen-Lobby, ausländischen Kräften und der
Lufthansa, deren erklärtes Ziel es sei, die aufstrebende Türkei zu schwächen.
Der Journalist und heutige Berater von Erdoğan, Yiğit Bulut, trieb dies auf die
Spitze, in dem er öffentlich von einem Mordversuch am Ministerpräsidenten per
Telekinese, also Gedankenübertragung, fabulierte. So merkwürdig diese
Verschwörungstheorien klingen mögen, willfährige Abnehmer finden sich stets.
Ironischer Protest auf die Verschwörungstheorien von Regierungsseite: Graffiti während der Gezi-Proteste in der Umgebung vom Taksim-Platz: Wtf ist Zinsenlobby? |
Zudem ließ auch die AKP kein Mittel zur Spaltung
der Proteste aus und mobilisierte zu ihren Anti-Gezi Park Meetings mit
skurrilen Propaganda-Ideen. So setzte sie im Juni 2013 selbst auf die
Popularität von Çarşı. Auf einer Pro-AKP Demo im Istanbuler Stadtteil
Zeytinburnu liefen Erdoğan-Anhänger mit Çarşı-Fahnen auf, unübersehbar für
Medien vor der Bühne platziert. Der Clou dabei: Es fehlten sowohl der übliche
Schrifttyp von Çarşı als auch das typische A. Parteistrategen setzten auf die
Streetcredebility von Çarşı und versuchten die Ultras zu vereinnahmen. Zugleich
zeigt dies eindrucksvoll den Stellenwert von Çarşı als Marke und Organisation
in der Gesellschaft auf.
Genau diese Gruppe, mit der die AKP im Zuge der
Gezi-Proteste Werbung machte, steht nun wegen Putschversuch gegen eben diese
Regierung unter Anklage. Und damit ist Çarşı nicht allein. Im ganzen Land
laufen unzählige Verfahren gegen Einzelpersonen und Organisationen mit Bezug
auf die Juni-Proteste. Überdies auffällig ist, dass dies nicht der erste
Putschversuch gegen die AKP sein soll. Verfahren mit dem Vorwurf des
Putschversuches ziehen sich wie eine rote Linie durch die Amtszeit Erdoğans.
Sie wurden bekannt unter den Schlagworten „Ergenekon“ und „Balyoz“. Hierbei
traf es die kemalistische Opposition besonders hart. Hunderte von Journalisten,
Politikern und Militärs landeten aufgrund des Vorwurfes schon für mehrere Jahre
hinter Gittern. Aktuell wird ein weiterer Putschprozess vorbereitet, diesmal
gegen die religiöse Glaubensgemeinschaft um Prediger Fetullah Gülen, mit dem
sich die AKP nach jahrelanger Zusammenarbeit überworfen hat.
Mit der Umstrukturierung der Gerichtsbarkeit in
den letzten Jahren ist die offensichtliche
Abhängigkeit der Justiz von der Regierungspartei noch verstärkt worden.
Richter und Staatsanwälte leben in ständiger Angst versetzt zu werden. Diese
Entwicklung kritisierte jüngst die Venedig-Kommission im EU-Rat und prangerte
die Einflussnahme der Politik in Form von Versetzungen, Entlassungen und
Festnahmen im Justizapparat auch in laufenden Prozessen im Juni 2015 an.
Wirren der Anklage
Obendrein ist der Prozess von einer ganzen Reihe
an Widersprüchen und irregulären Abläufen geprägt. Im Gegensatz zu den
vorhergehenden Putschprozessen in der jüngsten Geschichte der Türkei, ist die
Anklageschrift mit 38 Seiten auffällig kurz gehalten. Zudem wurde bereits im
Vorfeld der zuständige Staatsanwalt Muammar Akkas abgesetzt, seine angebliche
Nähe zu Fetullah Gülen brachte ihn nun selbst hinter Gittern. Der neue
Staatsanwalt Adem Meral sorgt nicht nur mit der knappen Anklage für Aufsehen,
sondern auch mit seiner schriftlichen Antwort auf eine Anfrage der Behörde zur
Terrorbekämpfung. Darin bescheinigte er, dass trotz vielfacher Abhöraktionen
keinerlei Anhaltspunkte für die illegale Organisation eines Putsches von Çarşı
existierten. Zu diesem Zeitpunkt war er
noch nicht mit der Anklage beauftragt.
Nur drei Monate später klagte er dann wegen
Vorbereitung eines Putschversuch und Gründung einer illegalen Organisation an.
Die Zeit schien knapp gewesen zu sein, denn selbst die nur 38 Seiten der Anklageschrift
sind äußerst aufgebläht. Die Namen der Angeklagten nehmen den meisten Platz
ein. Auf den restlichen Seiten wird es immer skurriler. Von der
Staatsanwaltschaft genannte polizeiliche Zeugen bestritten die unter ihren
Namen aufgeführten Aussagen. Diese seien aus einem anderen Verfahren in dieses
per Copy and Paste eingefügt worden. Probleme mit Çarşı hätten sie keine
gehabt, berichteten die Beamten am zweiten Verhandlungstag. Damit fällt einer
der wichtigsten Punkte der Anklageschrift weg. Es bleiben eine Reihe von
Telefonaten, in dem die Angeklagten ihren Frust über die Situation im Land in
Teils derben Worten ausdrücken, oder Pizzarechnungen die für den
Organisationsgrad stehen sollen. Nicht zuletzt wurde eine präparierte
Plastikflasche als Waffe gewertet diese stellte letzlich jedoch nur eine
harmlose und selbsthergestellte Pfeife dar. Entwaffnend verteidigte sich
Mitangeklagter Cem Yakışkan: „Wenn wir die Stärke hätten, um einem Putsch
durchzuführen, dann hätten wir Beşiktaş zuerst zur Meisterschaft verholfen.“
Auch aufgrund der dürftigen verbleibenden Anklage
kam die Verhandlung am dritten Prozesstag unter einem neuen Richter erneut
keinen Schritt weiter. Bundestagsabgeordneter und Prozessbeobachter Özcan Mutlu
postete ein Video vom Auszug der singenden Fans aus dem Gerichtssaal und
kommentierte per Twitter: „Das Verfahren ist weiterhin
ein Politikum und ein Lackmustest für die Justiz“. Die Istanbuler Anwaltskammer
sah schon mit der Anklageschrift den Höhepunkt der staatsanwältlichen Phantasie
erreicht und beklagte die Verwässerung des juristischen Begriffs des
Putschversuches. Damit würde gesellschaftliche Angst erzeugt, um vor der
Teilnahme an demokratischen Protesten abzuschrecken und Polizeigewalt zu
rechtfertigen.
So schaut aus wenn #Carsi das Gerichtssaal verlässt. Verfahren weiterhin ein Politikum, Lackmustest für Justiz pic.twitter.com/zcYw9DfGUB
— Özcan Mutlu (@OezcanMutlu) 26. Juni 2015
Der juristische Umgang mit den Gezi-Protesten ist
somit nur im Kontext einer politisierten Justiz zu verstehen. Die größten
Proteste in der Geschichte der türkischen Republik richteten sich gegen die
neue Machtelite der AKP. Auf den Ausgang des Verfahrens werden somit auch tagespolitische
Ereignisse Einfluss haben. Denn eine stille Beerdigung des Verfahrens sollte in
die Konjunktur passen.
Dementsprechend lässt sich auch die letzte
Verhandlungsverschiebung einordnen. Denn die AKP stand vor einer schweren
Bewährungsprobe. Bei der Wahl am 6. Juni verlor sie die absolute
Parlamentsmehrheit und hätte erstmals koalieren müssen. Da es bis Ende August zu
keiner Koalitionsregierung kam, mussten Anfang November Neuwahlen durchgeführt
werden. Eine weitere Niederlage in einem der etlichen Putschverfahren stünde da
nicht gut zu Gesicht. Und selbst regierungsnahen Medien scheint das Verfahren
mit einer zu heißen Nadel gestrickt zu sein. Die Berichterstattung fällt nahezu
komplett aus. So war es nicht verwunderlich, dass dies beim vierten Prozesstag
im September berücksichtigt wurde und ein Abschluss des Verfahrens erst
auf einen Termin nach der erneuten Wahl fiel. Zudem wurden die Anklage wegen versuchten Putschversuches zurückgezogen. Die Staatsanwaltschaft fordert jedoch weiterhin Strafen zwischen 2 und 50 Jahren gegenüber einzelnen der Angeklagten wegen Gründung, Leitung oder Mitgliedschaft einer illegalen Vereinigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Sachbeschädigung und Verstoß gegen das Versammlungsgesetz. Nun wird für den 29. Dezember ein Verhandlunsergebnis erwartet.
Dieser Post ist eine leicht aktualisierte Fassung des Artikels "Çarşı gegen Alles" erschienen in Transparent-Magazin No.14.
Dieser Post ist eine leicht aktualisierte Fassung des Artikels "Çarşı gegen Alles" erschienen in Transparent-Magazin No.14.